Diese Kerb: ein guter Neubeginn
Als am Kerbmontag beim FrĂŒhschoppen in der „Linde“ kein einziges PlĂ€tzchen mehr zu finden war, als die Leute dennoch fĂŒr jeden Neuankömmling noch ein biĂchen dichter aufeinanderrĂŒckten, als der Arthur Fenn die SĂ€nger vom „SĂ€ngerkranz“ zu immer neuen Liedern dirigierte, als der JĂŒrgen Heyer vergnĂŒgliche Lieder zur Gitarre sang â da kam doch fast ganz richtige Kerbstimmung auf. Beim „Eckert“ in der BabenhĂ€user StraĂe hing der grĂŒne Selleriekranz – wie es sich in Dietzenbach von eh und je gehört, nicht das „landfremde“ FichtekrĂ€nzi – am Haus, gewunden vom 83jĂ€hrigen Heinrich Philipp Göckel, der das nun schon seit vielen Jahren tut: als die Kerbborschen noch durch die StraĂen zogen, als diese alten BrĂ€uche fast ausgestorben schienen und nun, wo auch die Dietzenbacher wieder zu entdecken scheinen wie hĂŒbsch der VĂ€ter alte Sitten doch waren.
Vier Jahre ist es nun her, da schrieb die Stadtpost zur Kerb, tröstlich, daĂ es doch noch einiges VergnĂŒgliche – den Kerbplatz mit vielen KindervergnĂŒgungen, Kerbtanz, fröhliche Runden in den GaststĂ€tten – gebe, wenn auch leider die alten KerbbrĂ€uche, wie sie Heinrich Berz so anschaulich beschrieben hat, wenig mehr ĂŒbriggeblieben sei.
Das nun wollten einige MĂ€nner nicht auf Dietzenbach sitzen lasenâ Willi Schreiber, Jakob KlöĂmann, Werner Dutine, Heinz Eberhard zogen vom „Treffpunkt“ aus in den Wald und holten einen Kerbbaum ein, die erste Kerbbopp wurde – auch das alter Brauch – gestohlen und so vergnĂŒgte man sich, ohne daĂ es der Bevölkerung allzu deutlich wurde, drei Jahre. „Wir waren ja nur Kerb-Opas“, meint Willi Schreiber heute mit leiser Selbstironie. Zum Abschied von ihrem Kerbborschendasein hatten sie sich im vergangenen Jahr etwas ganz Neues einfallen lassen:
Mit klingendem Spiel und lustig gewandet zog der SG-Fanfarenzug beim Wecken zur Kerb durch die StraĂen. Die neue Form hat allseits viel Anklang gefunden. Foto: Latzke
eine „Kerblies“ wurde an den Baum gebunden, „die war so schön, daĂ in einer Dietzenbacher Wirtschaft der Wirt eine Ehrenrunde mit ihr drehte“.
In diesem Jahr nun ist der Sprung in die Offentlichkeit gelungen: in den jungen MĂ€nnern des „Ildt-Clubs“â eines Geselligkeitsund Schoppenvereins, der fĂŒr jeden Ulk und fröhliche Gemeinschaft gut ist, fanden sich jĂŒngere Kerbburschen und der wiedergegrĂŒndete SG-Fanfarenzug lieĂ den „Weckruf“ zur Kerb wiederaufleben.
Am Freitagnachmittag schon ging es los: aus dem Walde wurde der stattliche Kerbbaum geholt und vor der Licher Pilsstube, wo „Kerbvadder“ Horst Buch residiert, buntbebĂ€ndert aufgestellt.
Der „Borsch“, mit Stroh ausgestopft, mit alten Kleidern angezogen, ein Friseurkopf lieĂ ihn direkt als „Schönling“ erscheinen, wurde auf seinem Stuhl hoch in die Luft gesetzt.
Am Abend kamen die Kerbborschen mit ihren StrohhĂŒten zusammen, Rainer Wagner hatte die Kerbrede, die ihm der letzte „echte“ Kerbborschenjahrgang ĂŒbergeben hatte, aktualisiert, das Ker-
b1iedâ auch das noch von anno dazumal, wurde gesungen. Kerbvadder Buch stĂ€rkte die Mannen nach so viel Anstrengung mit einer krĂ€ftigen Erbsensuppe.
Der Kerbsamstag brachte fröhliches Treiben auf dem Kerbplatz und in den Gastwirtschaften, der Kerbsonntag schon am frĂŒhen Morgen den „Weckruf“. Mit einem StĂ€ndchen des Fanfarenzuges
beim Kiosk Braun, wo sich der Zug formiert hatte, ging es los, angeschlossen hatten sich auch die „Schoppen-Rangers“ aus der „Guten Quelle“ und der TT und FF-Club 77 der „Harmlosen“ aus der
„Linde“, die die Original-Kerbfahne von 1947 (von Franz Raab zwei Tage gut bewacht) mit sich fĂŒhrten, die jahrelang bei der „Eis-Dorthel“ treu aufbewahrt worden war.
Die Dietzenbacher, sonst doch eher ein ruhiger Menschenschlag, waren an diesem Kerbsonntagvormittag „auĂer Rand und Band“, wie es einer formulierte, der im Zuge mitzog. Sie kamen aus den HĂ€usern und tanzten auf den StraĂen und brachten Trinkbares an. Zu trinken gab es natĂŒrlich auch bei den einzelnen Stationen: Licher Pilsstube – Alt-Dietzenbach (wo Wirt Werkmann auf der StraĂe Tische aufgestellt hatte und viel Beifall damit fand) – Treppchen-Linde. „Das hab ich seit Jahren nicht mehr erlebt“, stellte GĂ€rtner Gall gerĂŒhrt fest und bewirtete die Kerbborschen spontan.
Ein Erlebnis, das die, die dabei waren, wohl nie vergessen werden, fand in der Wilhelm-Leuschner-StraĂe statt: Jakob Wolf, einst vor mehr als 25 Jahren StabfĂŒhrer des damaligen Spielmannszuges ĂŒberreichte dem StabfĂŒhrer des neuen SG-Spielmannszuges den Stab, den er die ganzen Jahre in Ehren gehalten hatte. Albert Meissner trat zurĂŒck ins letzte Glied und lieĂ Jakob Wolf noch einmal den Stab fĂŒhren. Die „Kleine Garde“ klang auf. Der SG-Fanfarenzug wird, so verlautet – um die KontinuitĂ€t der Tradition zu wahren – dem verdienten Jakob Wolf zum „EhrenstabfĂŒhrer“ ernennen.
Mitsamt Baggagewagen, von Philipp Keim und Schorsch Holzmann mitgefĂŒhrt – konnte man denn bei diesem ersten Versuch ahnen, wie vorzĂŒglich man unterwegs mit Speis und Trank versorgt werden wĂŒrde? – kam man schlieĂlich in der „Linde“ an. „Als wir die Linde zum AbschluĂ bestimmten“, meint Georg Ruchti, der Vorsitzende des Fanfarenzuges, „wuĂten wir noch nicht, daĂ unsere SG-Halle termingemÀà fertig sein wird.“
Die Kerb 78 war rundherum ein Erfolg. „Auch die Stadt“, so BĂŒrgermeister Dr. Keller „muĂ den Fanfarenzug und den Burschen vom Ildt-Club herzlich danken fĂŒr ihre Initiativen zur Wiedererweckung alter BrĂ€uche.“ Sie sind, so hatte es zumindest den Anschein, auf Interesse gestoĂen. Nun kommt es, wenn dieser Schwung nicht verpuffen soll, darauf an, daĂ der „richtige“ Jahrgang im nĂ€chsten Jahr die Sache in die HĂ€nde nimmt. lad
Quelle: Dietzenbacher Stadtpost 02.11.1978