Wem is die Kerb? – Unser!
Von Frank Oppermann
Wohl kaum ein anderer Schlachtruf wie die immer wieder lautstark und selbstbewuĂt in die Menschenmenge des Volksfestes gerufene scheinbare Frage der Kerbburschen âwem ist die Kerb?â und die darauf auch gleich von denselben Burschen noch lautstarker gegebene Antwort âunser!â, zeigt Bedeutung und Wandel von öffentlichen Festen besser auf als dieser Spruch. Der jeweilige Jahrgang der zum MilitĂ€r einrĂŒckenden jungen MĂ€nner bestimmte das Kerbgeschehen, âihnen war die Kerbâ, sie tanzten am meisten, sie tranken am meisten und sie organisierten sich, um die Musikkapelle zu bezahlen, um das örtliche Geschehen des vergangenen Jahres zu persiïŹieren und um die Kerb mit vielerlei Aktionen auszugestalten. Und wehe, wenn eine andere Jahrgangsgruppe oder gar Burschen aus benachbarten Orten die Beantwortung dieser Frage ĂŒbernahmen, so war dies oft genug Signal fĂŒr eine Massenrauferei.
Wichtigste Voraussetzung dieser KerbbrĂ€uche war eine sich stĂŒtzende und sich auch andererseits kontrollierende soziale Dorfgemeinschaft, mit von allen akzeptierten oder zumindest mitgetragenen Verhaltensregeln. Obwohl der religiöse Bezug der Kirchweihfeste – falls ĂŒberhaupt je vorhanden – sich relativ frĂŒh, wohl schon im Mittelalter, löste, blieb die Sozialverbindlichkeit der Kerb als das einzige öffentliche Fest einer Gemeinschaft lange erhalten. (âDie Kerb ist unser!â) Sie war das verbindliche Ergebnis einer Ortsgemeinschaft, zu dem auswĂ€rtige Verwandte eingeladen wurden, nicht mehr am Ort wohnende BĂŒrger zu Besuch kamen; sie war der öffentliche Treffpunkt der Jugend dieser Gemeinschaft schlechthin, der Heiratsmarkt, Nachrichtenbörse und gemeinschaftliches aktives Feiern gleichermaĂen darstellte.
Doch dies hat sich heute geĂ€ndert. Mit einem Wandel unseres gesellschaftlichen Wertesystems ist die Kerb nicht mehr das was sie war und zu einem unter vielen Volksfesten degradiert. Die Rolle der heutigen dörflichen oder kleinstĂ€dtischen Ăffentlichkeit beschrĂ€nkt sich auf passives Zusehen oder
Konsumieren. Nur noch ein verschwindend geringer Prozentsatz der Bevölkerung eines Ortes nimmt ĂŒberhaupt am Kerbgeschehen teil. Das Verlagern gesellschaftlicher Verhaltensweisen in andere Gebiete (Fernsehen, Urlaub, Diskothek), ein Ăberangebot an Unterhaltungsmöglichkeiten gerade bei den groĂen Volksfesten in unserer Region (WĂ€ldchestag Frankfurt, Heinerfest Darmstadt, Ebbelwoifest Langen), die fast nicht mehr zu ĂŒberblickenden, jĂ€hrlich wiederkehrenden Kultur- und Stadtteilfeste (âAltstadtfestâ in Neu-Isenburg, âHooschebaaâ-Fest in Sprendlingen, âWeiberkerbâ, âTöpfermarktâ und âBurgfestâ in Dreieichenhain, âBachgassenmarktâ in Langen, Historische MĂ€rkte und Weinfeste andernorts) und unzĂ€hlige StraĂenfeste, Vereinsabende und Nachbarschaftsgrillparties haben die Kerb ihrer ursprĂŒnglichen Funktion beraubt. Ihre alten BrĂ€uche und Riten muten der modernen Gesellschaft wie ein MĂ€rchen von âanno-schon-eâ-malsâ an. Die Kerb ist nicht mehr âunserâ- sie ist lediglich ihren wenigen Organisatoren.
Dies wird oft genug als MiĂstand empfunden. Die Kerb wird zwar in allen Orten des Dreieichgebietes mit âSchausteller- und VergnĂŒgungsparksâ begangen, aber eine sich aus einer alten örtlichen Sozialstruktur wie selbstverstĂ€ndlich jĂ€hrlich neu rekrutierenden Kerbburschengruppe gibt es nur noch in Dreieichenhain und Egelsbach. ln Langen und Götzenhain haben sich Kerbvereine gebildet, um die jĂ€hrliche Kerb mit traditionellen BrĂ€uchen auszugestalten. Wohl unbewuĂt arbeiten sie hier an einem kleinen Aspekt eines ĂŒbergreifenden gesamtkulturellen Problems. Der Entfremdung und der Austauschbarkeit des Einzelnen und der Kleingruppe innerhalb der Industriegesellschaft und die Ă€uĂerst geringen Möglichkeiten an aktiver Mitgestaltung des kulturellen und gesellschaftlichen Umfeldes stehen die praktizierten historischen BrĂ€uche der örtlichen Kirchweihfesten gegenĂŒber, die wiederum letztlich auch Versuche sind, eine mitbeeinfluĂbare lokale IdentitĂ€t herzustellen. âŠ
Quelle: Landschaft Dreieich 1989