Erinnerungen an die erste Kerb nach dem Zweiten Weltkrieg / „Kerbkuche“ und Kranz: viele Traditionen leben heute noch weiter
„Wir haben das von uns aus gemacht“
Arthur Keim (mit Gitarre) mit den Kerbborschen 1948 bei der ersten Kirchweih nach dem Zweiten Weltkrieg. ■ Foto: Kerbverein
DIETZENBACH ■ Ein junger Mann steht auf einer Holzleiter, die an eine Hauswand gelehnt ist. Neben ihm eine Puppe aus Stroh und ein Wirt, der diese Belagerung über sich ergehen lässt. Eine Menschentraube hat sich auf dem Harmonieplatz versammelt, um sich dieses Spektakel anzuschauen. „Wenn dieses Gläschen nicht zerbricht, feiern wir unsere Kirchweih nicht“, ruft der Jungspund und zerschmeißt anschließend besagtes Trinkgefäß, um die erste Kerb nach dem Zweiten Weltkrieg zu eröffnen.
Seither wird mit diesem Spruch die Kerb in Dietzenbach eröffnet. Nach 70 Jahren kehrt die Eröffnungsrede wieder an den Ort zurück, an dem der Kerbborsch Arthur Keim († 2016) einst auf der Leiter stand. In einem Interview mit dem Kerbverein Dietzenbach von 2013 erzählte Keim von seinen Erinnerungen an die Kerb im Jahr 1948. „Das war einmalig, das war ein Erlebnis – die Leute waren froh, dass der Krieg vorbei war.“ Die Kerbborsche seien damals durch die Gaststätten gezogen und haben gefeiert. „Vor jeder Wirtschaft hing ein Kranz mit bunten Bändern“, erinnerte sich Keim. Er war mit seiner Gruppe für den Kranz vor der Harmonie zuständig. Damals war es gang und gäbe, dass zu jeder Wirtschaft eine Gruppe Kerbborsche gehörte, meistens bildeten diese sich aus verschiedenen Vereinen und deren Stammlokalen. Insgesamt sieben Tanzsäle gab es im Dorf, das damals etwa 3 000 Einwohner hatte. Kleine geschmückte Kerbbäume gehörten ebenfalls zum Erscheinungsbild. „Unseren Kerbbaum, der war so einen Meter lang, den haben wir im ersten Stock der Harmonie befestigt“, erzählte Keim. Seit zwei Jahren thront der Kerbbaum wieder auf dem Harmonieplatz – allerdings in zehnfacher Größe. 70 Jahre später wird an diesem auch der Kerbkranz befestigt, der einen Durchmesser von 1,20 Meter hat. Die Wirtschaft, in der die Kerbborsche ihren Rückzugsort haben, wird heutzutage „Kerbzentrale“ genannt und erhält ebenfalls einen kleineren Kranz. Es klingt ziemlich ähnlich, aber doch anders als früher. Die Tradition, dass der Kranz mit frischem Selleriekraut gebunden wird, hat sich bis heute gehalten.
„Es war niemand da, der gesagt hat ‚Ihr seid jetzt Kerbborsche‘, wir haben das von uns aus gemacht“, berichtete Keim in dem Interview weiter. Was die Borsche getrieben haben, war „je nach Talent“. Keim war für die Reden zuständig, andere hatten schöne Singstimmen, wieder andere beherrschten ein Instrument wie kein anderer. Auf alten Fotos, auch von vor dem Krieg, sieht man außerdem ab und zu Spielmannszüge, mit denen die Kerbgesellschaft die Aufmerksamkeit auf sich zog. An derlei Dinge erinnert der Weckruf der Kerbborsche, der traditionell am Sonntagmorgen (Start um 9 Uhr in der Frankfurter Straße 21) stattfindet. Dabei verkaufen die jungen Männer und ihr Gefolge den „Kerbkuche“, der schon in Hedi Weilmünsters Buch „Anno dazumal“ Erwähnung findet. Früher wurden „Bleche voll Kerbkuche heimgetragen“, heute bringen die Kerbborsche denjenigen, die an dieser Tradition festhalten, den Kuchen an die Haustür. Beim Weckruf steht mancher „Urdietzenbacher“ schon am Tor oder dem geöffneten Fenster und lauscht gerne dem Kerblied, das in dieser Form schon von Keim und seinen Kameraden gesungen worden ist. ■ zls
Quelle: Offenbach Post (online) 26.10.2018